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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 01.08.2002


Die nackte Realität?
Meike Bölts

Wir haben kaum eine Chance sie zu ignorieren: Massiv verschaffen sich Unternehmen, Institutionen und Parteien über unterschiedlichste Werbemaßnahmen Eintritt in unser Leben.




Getreu dem Prinzip "Werbung muss Aufmerksamkeit erzeugen" stürzen Werbungstreibende dabei immer häufiger ins Geschmacklose und Amoralische ab.

Im Internet wachsen dabei die seltsamsten Stilblüten: So schalten gmx und Netscape auf den eigenen Seiten Werbung für nicht nur frauenfeindliche sondern pornografische Seiten. Auf eine Anfrage bekamen wir die Antwort, dass diese Werbung nur bei einem "männlichen" Login geschaltet sei... Als ob Männer keinen Geschmack hätten!

"Wir spiegeln Lebensrealität." Ein gern bemühtes Argument der Werbeindustrie, mit dem sie sich Moralapostel vom Hals hält. Doch eine Grundregel der Werbung sollten sie nicht aus den Augen verlieren: Gute Werbung bricht mit Erwartungen, Schlechte bricht Tabus.

Als Kontrollorgan der Werbebranche ahndet der Deutsche Werberat beanstandete Werbemaßnahmen. Er wurde vor 30 Jahren vom Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) ins Leben gerufen und soll "Leitlinien selbstdisziplinären Charakters" entwickeln. Das Verfahren ist einfach: Einwände gegen Werbemaßnahmen werden an ihn herangetragen. Stimmt der Rat dem Einwand zu, ziehen Unternehmen häufig schon jetzt ihre Werbung zurück. Geschieht dies nicht, kann der Werberat eine öffentliche Rüge erteilen. In 30 Jahren griff der Werberat 58 Mal zu dieser Maßnahme, im letzten Jahr dreimal.

Volker Nickel und Jürgen Schrader, Geschäftsführer bzw. Vorsitzender des Werberates, vertreten die These der mündigen BürgerInnen: Lebenskompetenz ermögliche es ihnen, selbst über den diskriminierenden Gehalt von Werbemaßnahmen zu entscheiden und geeignete Schritte zu ergreifen. Auf der anderen Seite stehen die Institutionen, die in den VerbraucherInnen eher "Fürsorgezöglinge" sehen: Anhand einer Art Wertekatalog soll früher und härter durchgegriffen werden als es aktuell geschieht.

Zur Zeit werde zwei Alternativmodelle zu dem auf "Lebenskompetenz" basierenden Verfahren entwickelt: Ein Referentenentwurf der amtierenden Bundesregierung des Verbraucherinformationsgesetzes will die Eingriffsmöglichkeiten des Gesetzgebers erhöhen, um den VerbraucherInnen einen bewussten Konsum nach ethischen Grundprinzipien zu ermöglichen.

Zeitgleich ist das Hans-Bredow-Institut von dem Bundesbeauftragten für Kultur, Prof. Julian Nida-Rümelin mit einer Studie über "Regulierte Selbst-Regulierung" beauftragt. Ein Endergebnis liegt hier noch nicht vor. Der Werberat äußert sich zu einem ihm vorliegenden Zwischenbericht jedoch kritisch: Der Staat wolle auf Gesetzesbasis wieder mehr Einfluss erlangen.

Sowohl der Werberat als auch die Gesetzesinitiative haben ihre Stolperfallen: Dem Werberat wird Parteilichkeit - er ist mit Unternehmen der Werbebranche besetzt - und ein Placeboeffekt unterstellt. Da er keine Strafen verhängen kann, wird er zum Teil belächelt. Auf der anderen Seite ist ein Gesetz mit einem festgelegten Moralkodex sehr statisch und entlässt die VerbraucherInnen aus ihrer eigenen Verantwortung.

Abschließend:VerbraucherInnen sollten sich wieder ihrer Macht bewusst werden. Wird ein Produkt oder eine Dienstleistung konsequent boykottiert, hat die Werbeabteilung ein Problem. Denn Werbung hat nur eine Funktion: Umsatzsteigerung. Gelingt dies nicht, ist die Werbung schlecht und wird abgesetzt.

Wenn Umsatzsteigerung auch noch mit moralischer Integrität einher geht, dann gebührt der Werbeabteilung ein besonderer Dank für die innovative Werbestrategie! Corporate Citizenship ist gefragt: Auch so ein wunderschöner von der Werbebranche geprägter Begriff.

Juli 2002


Public Affairs

Beitrag vom 01.08.2002

AVIVA-Redaktion